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Der Sog der Veränderung: Wenn der Wunsch nach Neuem zur Sucht wird – und wie man damit umgehen kann

Sucht nach Veränderung

Veränderung muss her, wenn es geht bitte gestern. Haare abschneiden? Naja, ein bisschen langweilig. Umziehen könnte ich mal wieder. Einen neuen Job brauche ich eigentlich auch schon lange. Hmpf, alles anstrengend und kompliziert. Naja, dann heute erstmal Kino-Abend, mehr Ablenkung geht auf die Schnelle nicht. Morgen kümmere ich mich um ein neues Hobby. Erstmal Möbel umstellen und dann Ernährung umstellen. Hauptsache Veränderung. Kommt dir das bekannt vor? Ich nenne es die Sucht nach Veränderung.

Es gibt ein bekanntes Sprichwort, das besagt: „Veränderung ist die einzige Konstante im Leben“. Und grundsätzlich ist Veränderung wunderbar, sie treibt uns an und bringt und weiter. Aber was passiert, wenn dieser Wunsch nach Veränderung so stark wird, dass wir ohne ständige Veränderung unzufrieden werden? Oder umgekehrt: unsere Zufriedenheit in ständiger Veränderung suchen? Finden wir sie dort? Meistens nicht.

Es gibt Phasen, in denen ich gut damit umgehen kann, dass sich (nahezu) nichts verändert. Und dann gibt es Zeiten, da überkommt mich eine regelrechte Sucht nach Veränderung. Da dieser Zustand anstrengend ist, habe ich angefangen mir dazu mehr Gedanken zu machen. Woher kommt diese Sucht nach immer neuen Beschäftigungen und Veränderungen? Letztendlich sind es Beschäftigungen für den Kopf, irgendwas worüber ich nachdenken und womit ich mich beschäftigen kann. Das Ergebnis im „außen“ ist gefühlt zweitrangig. Es geht nicht darum, WAS sich verändert, sondern darum DASS sich etwas verändert.

Dieser Artikel wurde erstmals 2017 veröffentlich und zuletzt 2023 aktualisiert.

Woher kommt die Sucht nach Veränderung?

1. Das Internet entscheidet schnell. Wir entscheiden langsam.

Ein neuer Post, ein neues Video, ein neuer Artikel und hier noch das allerneueste Produkt. Und ein neuer Onlinekurs! Die hat einen neuen Freund und macht gerade einen total spannenden Urlaub!
Im Internet gibt es ständig was neues. Unser Hirn versteht nicht, dass das, was da auf Instagram passiert nicht alles gleichzeitig der gleichen Person passiert. Wir können die Menge an Informationen gar nicht verarbeiten und haben das Gefühl, ganz viel tun/lernen/erleben/kaufen zu müssen, um auch nur ansatzweise Schritt zu halten.

2. Wir können bei fast allem immer wieder neu wählen, bei nahezu unbegrenzter Auswahl.

Ein neuer Partner? Tinder. Ein neues Sofa? Ikea. Eine neue Wohnung? Immoscout. Ein Job, am besten im Ausland? Monster & Stepstone. Neue Bücher (oder sonst neuen Krempel)? Amazon. Eine tolle, neue Reise? AirBnB. Ein neues Auto? Mobile.de. Ein neues Haustier? Kein Problem. Alles kein Thema, in wenigen Klicks ist es verfügbar.

Was immer uns in den Sinn kommt, wir können uns sofort nach Alternativen für ALLES umschauen. Früher musste man wenigstens noch eine Zeitung kaufen mit Stellenangeboten (und die gab es bei uns nur mittwochs und am Wochenende). Man musste wenigstens in eine Bar gehen oder sich einen Verein suchen, um jemanden kennenzulernen. Man musste das Haus verlassen, um ein Buch zu kaufen. Dadurch sind vermutlich viele „Eigentlich würde ich gerne“-Gedanken genauso schnell wieder gegangen, wie sie gekommen sind. Heute können wir sie sofort festhalten und eine echte Handlungsoption aus ihnen machen.

3. Uns wird erzählt, wir können alles schaffen. Immer. Wenn wir nur wirklich wollen.

Stillstand ist die Pest. Es ist wie verloren haben. „Was gibts neues?“ Stell dir vor, du antwortest „nichts“! Was, wenn ich heute gar nichts mehr schaffen will? Wenn es heute nichts Neues mehr geben soll? Ist nicht vorgesehen.

Wenn wir alles schaffen können, müssen wir doch auch ganz viel schaffen wollen! Oder? Wir sind die erste Generation – diese Generation Y – die in diesem Ausmaß die freie Wahl hat was wir mit unserem Leben machen wollen. Und wenn einem die ganze Welt offen steht – wie kann man denn dann freiwillig zu Hause bleiben? Es entsteht eine Sucht nach Bedeutsamkeit und eine Sucht nach Veränderung.

4. Wir müssen uns nicht mit den wirklich wichtigen Themen beschäftigen

Mittlerweile ist für mich (ganz persönlich) klar, dass dieses „Immer etwas Neues“ vor Allem auch ein Weglaufen ist. Innere Unruhe, vielleicht ein bisschen Unzufriedenheit, innere Konflikte die anklopfen. Sich mit den eigenen Eltern wirklich auseinanderzusetzen oder mit der vergangenen Beziehung, die Verletzungen hinterlassen hat. Bääääh, das könnte ja anstrengend werden.
Einen der vielen Neuanfänge zu beginnen (ich könnte ein Instrument lernen? Oder Spanisch?) ist doch viel, viel einfacher als sich mit dem Müll von gestern zu beschäftigen, der mich vielleicht unterbewusst doch mehr prägt, als ich zugeben will. Also flüchten wir.

Und es gibt für mich auch einen Anteil, der sich echte, große, bedeutsame Schritte nicht traut. Wirklich das eigene Leben zu gestalten, ganz grundlegend. Ganz in Ruhe und ohne diese innere Aufgeregtheit einen neuen Weg einzuschlagen, weil er sich richtig anfühlt – genau das tun wir oft nicht. Aus Angst, dass etwas schief gehen könnte. Da ist es doch einfacher, die Möbel umzustellen, als endlich den einen großen Schritt zu wagen, der vielleicht wirklich befreit.

5. Wir haben Angst, etwas zu verpassen.

Jede Entscheidung gegen eine Option ist immer auch ein Verzicht. Ich werde in diesem Leben nicht mehr wissen, wie es ist mit 20 Mama zu sein, mit 23 ein Unternehmen gegründet zu haben oder mit 18 in die Staaten auszuwandern. Das ist alles entschieden. Finito. Unwiederbringlich. Und das macht Angst, wenn man gewöhnt ist immer alles haben und machen zu können.Wir könnten was verpasst haben. Was wenn GENAU DIESER Job die Wende wäre in unserem ganzen Lebenslauf? Oder DIESE Stadt? Oder DIESER Partner?

Was, wenn ich diese Tür verschlossen lasse, daran vorbei gehe und niemals weiß, was sich dahinter verbirgt? Vielleicht sogar den Schlüssel wegwerfe, weil ich ganz sicher bin, ihn nicht zu brauchen? Und was ist mit den ganzen anderen Türen? Und so bleiben wir erstmal stehen und betrachten Türen. So lange, bis einige von alleine zu gegangen sind.

6. Die Sucht nach Veränderung ist eine der wenigen Süchte, die gesellschaftlich sehr anerkannt ist.

Es sind die allerwenigsten Freunde die bei der dritten großen Reise in Folge sagen „Kann es sein, dass du vor irgendwas flüchtest“? Erstmal gibt es ziemlich viele Likes auf Facebook und Instragram für das coole Foto auf dem Elefanten.

Wenn Bekannte Alkohol- oder Drogenabhängig sind, werden sie irgendwann darauf angesprochen. Schämen sich dafür. Wollen verheimlichen. Es gibt ein Gesellschaftliches Dogma was sagt „Alkoholsucht ist böse“. Sich hingegen ständig mit neuen Themen zu befassen gilt als ehrgeizig, vielseitig interessiert, aktiv und lebendig. Grundsätzlich ist es ja auch schön, wenn Menschen sich viel beschäftigen. Und wie immer macht die Menge das Gift. Übermäßige Aktivität wird allerdings nur sehr selten von unserem sozialen Umfeld als Sucht identifiziert. Deswegen können wir erstmal weiter machen. Nicht nur unbemerkt, sondern auch noch gelobt.

Warum ist es sinnvoll, diese Sucht nach Veränderung in den Griff zu bekommen? Und wie geht das?

Immer dann, wenn die Balance nicht mehr da ist entsteht ein Problem. Innen und Außen. Aktivität und Ruhe. Yin und Yang. Licht und Schatten. Diese Eigenschaft des Streben nach Neuem ist – in einem gewissen Maß – natürlich etwas sehr sinnvolles. Ohne den Forscher-und Erlebensdrang der Menschheit und die Freude am Entdecken wären wir als Gesellschaft nicht da, wo wir sind. Und mit Sicherheit ist viel davon auch eine Frage der Veranlagung. So weit, so gut.

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Und trotzdem bringt uns die Sucht nach Veränderung weg von uns. Weg von den Menschen, die wir eigentlich sind. Übersteigerte Aktivitäten nähren unser Ego, aber nicht unsere Seele, wenn sie aus den falschen Gründen stattfinden. Unser Geist hat gar nicht genug Zeit, alles zu verarbeiten was um uns herum passiert. Ich hatte schon viele solcher Phasen. Mittlerweile bemerke ich die wenigstens recht schnell und kann versuchen, auszusteigen und wieder mehr bei mir ankommen.

Wie ich damit umgehe:

1. Zugeben. Nicht vor anderen, sondern vor mir.

Mittlerweile merke ich recht schnell, wenn ich in diesem Modus bin. Es gibt neue Themen aus Freude daran und aus „für-mich-sorgen“ und es gibt neue Themen aus Ablenkung. Das zu unterscheiden erfordert ein bisschen sich-selbst-kennen, geht aber eigentlich relativ schnell. Für mich ist ein guter Indikator die gefühlte Dringlichkeit. Echte Herzensthemen sind wichtig, aber nicht dringend. Sie bringen eine große Ruhe mit. Das meiste, was sich danach anfühlt, irgendwie schnell gehen zu müssen, ist oberflächliche Ablenkung.

2. Nachsichtig sein mit mir.

Ich mache das nicht mit Absicht oder weil ich zu doof bin für anderes Verhalten. Es ist ein Muster, was ich gelernt habe und was jahrelang gut funktioniert hat. Und das ist ok. Ich merke es und werde achtsamer mit mir. Das ist doch was schönes.

3. Zur Ruhe kommen.

Da hat jeder seinen eigenen Weg. Ich nehme mir dann oft die Zeit zu meditieren oder Yoga zu machen. Ein gutes Gespräch mit einem engen Freund hilft auch. Alles was Ruhe und Sicherheit gibt. Die Sicherheit, gemocht zu werden und nichts sein zu müssen. Und auch einfach mal aushalten, dass man gerade unruhig ist. Auch das gilt es, anzunehmen.
Es ist im Übrigen spannend zu beobachten, dass mein anderes Ablenkungsverhalten (Essen) und auch diese Sucht nach Veränderung nicht präsent sind, wenn ich in Umgebungen bin die ganz dazu einladen, im hier und jetzt zu sein. Das ZEGG ist dafür ein guter Ort für mich oder auch die Zeit auf der Heldenreise. Dann bin ich ganz bei mir und alles ist gut, genau so, wie es jetzt gerade ist.

4. Wieder vertrauen, dass alles für irgendwas gut ist.

Schön ist ja, dass diese Phasen von höchster Aktivität oft von einem Gefühl der Überforderung begleitet werden. So ist man ganz natürlich dazu angehalten, wieder etwas kürzer zu treten, um wieder in Balance zu kommen.

Und letztendlich helfen diese vielen Aktivitäten auch immer wieder, mir die Bausteine rauszusuchen die ich in meinem Leben haben will und alles andere rauszuschmeißen. Und „zu viel machen“ ist ein sehr guter Grund um Bausteine rauszuschmeißen. Also ist auch das wieder für irgendwas gut. Stichwort Minimalismus im Terminkalender 🙂

5. Echte Entscheidungen treffen

Statt mich mich dem „Klein-klein“ des Alltags zu beschäftigen und meinen Geist ständig daran zu haften, könnte ich auch eine echte Entscheidung treffen. Das schreibe ich auch ein bisschen aus Erfahrung – seitdem ich die Entscheidung getroffen habe, zu heiraten, Kinder zu bekommen und so zumindest einen Teil meines Lebens sehr bewusst zu gestalten ist diese Veränderungssucht erheblich weniger geworden. Natürlich auch, weil ich nicht mehr so viel Zeit habe, aber auch, weil es etwas gibt was mich wirklich ausfüllt und meine Seele nährt. Weil ich eine echte Entscheidung getroffen habe.

Und ich glaube, dass das neben der familiären auch für berufliche oder wohnliche Entwicklungen so sein kann – wenn wir Dinge finden und jeden Tag tun (dürfen), die uns in der Tiefe zufrieden machen, kann sich der Geist beruhigen.

Dazu passt: Minimalismus als Lebensstil: Die Kunst des Weglassens im Wohnraum und im Kopf

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12 Kommentare

  1. Jojano sagt

    Hilft mir gerade meine schlaflose Nacht zu entnachten.
    Kann es auch sein, dass es Menschen gibt die immer wieder Umbrüche im Leben brauchen und dann haltlos darauf zusteuern. Obwohl in der gegenwärtigen Lebenssituation eigentlich alles bestens ist.
    ?

    • Luise sagt

      Hallo Jojano,
      vielen lieben Dank für deinen Kommentar. Ich glaube, grundsätzlich gibt es erstmal fast alles 🙂 Und na klar gibt es sicher Menschen die ewig auf der Suche bleiben und genauso Menschen, die einfach vor lauter Neugier nicht stillstehen können und wollen. Wie immer geht es – für mich – auch dabei um einen gesunden Mittelweg, um authentisches Erleben und Ausdrücken des eigenen Selbst. Veränderung aus Angst oder aus Liebe? Das ist doch die Frage, oder?

      Alles Gute dir!

      Luise

  2. Pingback: Warum wir immer etwas Besseres suchen – meintobi.de

  3. David sagt

    Liebe Luise,
    schöner Artikel, der mir aus der Seele spricht. Aushalten und Inne halten. Das sind Worte wie Pest und Cholera, auch wenn ich immer wieder merke wie wichtig es für mich ist, zieht es mich immer wieder ins machen, verändern und in das Getriebensein.
    Danke für die Denkanstöße
    David

    • Luise sagt

      Lieber David,
      lieben Dank für die schöne Rückmeldung! Ich wünsche dir alles Gute auf deinem Weg.
      Viele Grüße, Luise

  4. Sven sagt

    Hallo Luise. Dein Beitrag hat mir extrem geholfen für mein derzeitiges Leben eine Beschreibung zu finden. Vielen Dank. Meine Sucht nach Veränderung geht in Richtung Eigen-Sabotage. Grundsätzlich bin ich ein stoischer positiv gestimmter Mensch. Ich lebe seit meinem Schulabschluss (2000) das Leben eines umherziehenden Söldners im Bereich Logistik. Habe 3 Bundesländer abgegrast, Menschen von mir weggestoßen und suche stets nach dem kleinsten Detail, um erneut die Zelte abzubrechen und woanders neu anzufangen. Aktuell verspüre ich den Drang auszuwandern. Wie nennt man das? Wie kann ich das in den Griff bekommen? Ich habe stets einen Job, Dach über’m Kopf, kann gut mit Geld haushalten, bin anpassungsfähig, aber, ich kann ganz schlecht Menschen in mein Leben aufnehmen. Obwohl ich das insgeheim möchte. Die die sich darum bisher bemüht haben, werden von mir regelmäßig vor den Kopf gestoßen.

    • Luise sagt

      Hallo Sven,
      vielen lieben Dank für deinen offenen Kommentar! Es ist ja immerhin schonmal schön zu wissen, dass wir damit nicht alleine sind 🙂
      Viele Grüße & alles Gute für deinen Weg!
      Luise

    • Rebekka sagt

      Lieber Sven, ganz spannend, was du schreibst. Ich weiß nicht, ob du das Thema schon gelöst hast, doch wenn nicht, dann lege ich dir das Buch „jeder ist beziehungsfähig“ von Stefanie Stahl ans Herz. Da wirst du dich sicherlich Wiedererkennen. Viel Freude beim entdecken. Liebe Grüße

  5. Luise sagt

    Hallo Namensvetterin 😉

    Sehr gut be- und geschrieben, und ja, definitiv ich. Leider bin ich dadurch vor 3 Jahren in einem ordentlichen Burnout gelandet. Aber immerhin hat es mir geholfen, den Zustand bewusst zu machen und die Handbremse einzulegen. Und ich bin froh darüber wie ich bin. Man darf sich da auch nichts anderes einreden lassen. Ich sag immer: jeder hat einen Vogel, aber jeder auf seine Art 😉

    Alles Liebe, Luise

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