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Hochsensibilität: Ich bin nicht komisch, nur hochsensibel!

Hochsensibilität

Jahrelang habe ich nach Ursachen gesucht, warum ich immer so viel schneller müde und erschöpft bin als andere Menschen. Ernähre ich mich falsch? Mache ich irgendwas falsch? Bin ich einfach komisch? Heute weiß ich: nichts davon, ich bin einfach nur hochsensibel. Die Erkenntnis der Hochsensibilität war für mich so befreiend, dass ich sie gerne mit euch teilen möchte. Als ich noch zur Schule ging – insbesondere auf dem Gymnasium – , bin ich immer nach Hause gekommen und habe erstmal eine oder zwei Stunden geschlafen. Meine Mutti hat sich schon Sorgen gemacht deswegen. Und dann finde ich genau dieses Schul-Beispiel in der Podcastfolge von Laura Seiler über Hochsensibilität wieder und war völlig von den Socken. Ich konnte es gar nicht glauben, dass jemand anders das früher auch gemacht hat. Und auch noch weiß, warum!

Nach dieser „Entdeckung“ habe ich mehr und mehr Symptome entdeckt und auch angefangen, die Vorteile der Hochsensibilität stärker wahrzunehmen.

Was bedeutet Hochsensibilität?

Hochsensibel oder hypersensibel bedeutet, dass äußere Reize weniger gefiltert werden. Es kommt einfach mehr davon im Hirn an. Und das, was ankommt, wird auch noch intensiver verarbeitet.

Ungefähr 15-20% der Menschen geht es so – sagt man. Hochsensibilität ist keine offizielle medizinische Diagnose, die ein Arzt stellt. Anfangs tat ich mich damit schwer, dass es „nur“ ein subjektives Empfinden ist, ohne wissenschaftliche Basis. Heute denke ich, Sensibilität ist wahrscheinlich wie jede andere Eigenschaft von Menschen über die Bevölkerung normal verteilt. Das bedeutet, den Leuten, die eher unsensibel sind, also wenig auf äußere Reize reagieren (was auch eine Stärke sein kann), stehen eben auch einfach Menschen gegenüber, die sehr stark auf alle möglichen Reize reagieren.

Wenn ich Menschen erkläre, was Hochsensibilität ist, nehme ich gern das Beispiel einer Staumauer: Wie viel Wasser hindurchgeht um den Fluss hinter der Staumauer zu speisen, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Bei hochsensiblen Menschen stehen diese Schleusen einfach sehr weit offen, es werden wahnsinnig viele Reize wahrgenommen. Und das führt natürlich auch dazu, dass das Gewässer hinter der Staumauer schneller voll ist. Die maximale Kapazität an Empfindungen ist schneller erreicht. Wenn dann die Schleusen nicht bald geschlossen werden, läuft das Fass halt über. Man wird gereizt, überfordert und ist einfach sehr, sehr kaputt.

Wie fühlt es sich an, hochsensibel zu sein?

Genug der Theorie. Jetzt möchte ich gern mit dir teilen, wie sich Hochsensibilität bei mir äußert. Für viele dieser Eigenschaften habe ich mich früher selbst verurteilt und irgendwie geschämt. Umso mehr ich mich dem Thema gewidmet habe, umso mehr Aha-Erlebnisse gab es. Und die Freude darüber, dass ich doch ganz normal bin und viele andere Menschen meine Empfindungen teilen.

Es gibt eine Vielzahl von Merkmalen und Beispielen, die auf jeden unterschiedlich zutreffen. Aber das Grundthema – dass ein äußerer Reiz sehr stark wahrgenommen wird – ist immer das gleiche. Auch wenn die ersten Punkte eher negativ anmuten nehme ich mal vorweg, dass ich eigentlich ganz froh bin über meine Hochsensibilität :). Bei beiden Listen hätte ich noch endlos weiterschreiben können, aber ich habe mich auf die für mich wichtigsten Themen beschränkt.

Ich kann verschiedene Arten von Druck nur sehr schlecht aushalten.

Insbesondere Zeitdruck verursacht bei mir wahnsinnigen Stress. Selbst im letzten Urlaub – einer Rundreise – war ich ständig gestresst. Die Termine zum Check-out aus dem Hotel, losfahren morgens, Termine zum hier treffen, da treffen und zum weiterfahren haben mich echt fertig gemacht. Von Alltagsterminen ganz zu schweigen…

Es wird mir schnell zu laut und zu voll.

Insbesondere morgens habe ich im Idealfall gern absolute Stille. Kein Radio, keine Müllabfuhr, nichts. Viele Menschen, Großraumbüro & Co. halte ich nicht gut aus. Auf Partys bin ich immer schnell müde, habe mich aber trotzdem jahrelang gezwungen zu bleiben um nicht als uncool zu gelten. Die Zeiten sind vorbei 🙂

Ich brauche sehr viel Schlaf.

Hier kommt wieder das Schul-Thema. Ich war nach der Schule einfach völlig fertig. Klar, im Klassenraum ist es oft laut, es sind viele Leute da, es gibt viele Einflüsse und ständig „Termine“. Heute wundert mich das nicht mehr und ich nehme mir die Zeit, die ich brauche.

Unsensible Menschen erschöpfen mich sehr.

Es gibt immer wieder Menschen, die sind von Natur aus einfach etwas lauter und poltern viel herum. Sei es mit ihren Aussagen oder auch ganz physisch. Das kann ich nur sehr schlecht aushalten und gehe – insofern möglich – am liebsten schnell auf Distanz.

Ich bin sehr nah am Wasser gebaut. 

Abhängig vom gerade vorhandenen Stresslevel muss ich mich oft wirklich zusammenreißen, nicht in völlig unpassenden Situationen anzufangen zu weinen. Wenn ich ohnehin schon überreizt bin reicht manchmal ein lautes und unfreundliches Wort von jemandem, den ich nicht mag, und schon geht es los. Mittlerweile habe ich gelernt, das in der Situation besser zu kontrollieren (oder in Gegenangriff zu gehen um mich zu schützen) und dann später rauszulassen.

Ich habe oft das Gefühl, mir wird alles zu viel.

In meinem Alltag – mit arbeiten (angestellt und zu Hause), Hund, Mann, mittlerweile auch einem Sohn und was man halt sonst noch so hat – gerate ich oft unter zeitlichen Druck. Dann bin ich oft nicht nur wegen der akuten Situation gestresst sondern komme schnell in ein grundsätzliches „Ich schaffe das alles nicht mehr“-Gefühl. Hier sind regelmäßige Pausen und mindestens 2 freie Abende die Woche ganz für mich alleine wichtig – so gut es eben geht.

Ich bin sehr schmerzempfindlich.

Was andere Menschen noch gar nicht merken tut mir schon weh. Insbesondere beim Sport fällt mir das auf, dass mir schon wieder die Hand oder das Knie weh tut und zwar so sehr, dass ich aufhören möchte. Und Impfungen waren für mich noch nie ein „kleiner Pieks“ :D.

Die schönen Seiten der Hochsensibilität

Wie ich oben schon geschrieben habe, gibt es auch sehr schöne Seiten der Hochsensibilität und die will ich nicht missen.

Ich kann mich wahnsinnig über Kleinigkeiten freuen

– und laufe dann manchmal über vor Glück! Kürzlich saß ich morgens im Park und habe gefrühstückt. (Zeitplanung habe ich mittlerweile ganz gut gelernt, deswegen Zeit dafür.) Plötzlich flogen zwei sehr schöne große Vögel im Bogen über den Teich, in der glitzernden Sonne und haben einen wunderbaren Tanz aufgeführt. Mein Herz ist gehüpft und ich war so glücklich, dass ich durchaus mal wieder hätte weinen können 😀 Wie wenig es doch braucht. Und wie dankbar ich dafür bin.

Erst jetzt habe ich festgestellt, dass mein Artikel über den Takt der Natur dazu sehr gut passt: Jahreszeiten genießen – wie uns die Natur durchs Jahr führt

Ich kann andere Menschen sehr gut „sehen“.

Ich kann schnell ihre Stimmung wahrnehmen, sehen ob sie gerade sie selbst und authentisch sind. Und auch, wie ehrlich sie zu sich selbst sind. Irgendein kluger Mensch hat mal gesagt, man kann bei anderen Menschen nur so tief blicken, wie sie selbst schon geblickt haben.
Wenn zwei Menschen in einem Raum sind kostet es mich wenige Sekunden und ich weiß ungefähr, in welchem Verhältnis die beiden zueinander gerade stehen und wie die Stimmung ist. Ich kann recht schnell sehen, welche Themen jemand mit sich rumträgt, welche Glaubenssätze von „Ich bin nicht gut genug“ oder „Ich werde nicht gesehen“ er oder sie verinnerlicht hat – auch wenn sich das manchmal eher als Überheblichkeit äußert. Das bedeutet nicht, dass ich immer passend darauf reagieren kann, das kommt sehr darauf an unter wie viel Stress ich selbst gerade bin. Aber grundsätzlich ist auch das eine Eigenheit der Hochsensibilität, für die ich sehr dankbar bin.

Man kann mich nur schwer anflunkern 😀

Meinen Mann macht es manchmal wahnsinnig, dass ich oft sehen kann was er denkt. Und er braucht nicht das Gegenteil behaupten… im beruflichen wie privaten Kontext eine sehr praktische Eigenschaft.

Ich bekomme schnell mit, wenn es mir oder meinem Körper nicht gut geht und kann dann einlenken. 

Magengrummeln hier, Halsschmerzen da. Ich bekomme die Prozesse in meinem Körper immer sehr wahrhaftig mit, was auch sehr praktisch ist – und schön. Sich selbst spüren zu können und ein gutes Gefühl für den eigenen Körper zu haben ist etwas wundervolles. Ich kann nicht immer verhindern, krank zu werden, aber ich weiß hinterher zumindest warum ich krank geworden bin und kann daraus lernen. Und machmal weiß der eigene Körper auch, wann zu Hause bleiben einfach angesagt ist und zwingt einen so dazu.

Ich habe manchmal den Eindruck, viele Gefühle – positive wie negative – ein bisschen stärker wahrzunehmen als durchschnittlich sensible Menschen.

Ob Freude, Schmerz, Wut, Trauer, Angst oder Unsicherheit, ich fühle das sehr… allumfassend. Nicht immer schön, aber wenn man lernt das Gefühle auch vergehen, ist es in Ordnung. Und meistens überwiegen in meinem Leben die positiven Seiten sehr – dann bin ich froh dass ich oft die Vollkommenheit eines einzelnen, kleinen Moments sehr stark spüren kann.

Ich kann gut mit Tieren.

Auch das ist eine sehr typische Eigenschaft für hochsensible Menschen. Einem Hund oder einem Pferd kann ich oft ansehen, in welcher Stimmungslage es gerade ist. Bei meinem eigenen Hund rieche ich mittlerweile, wenn es ihm nicht gut geht, weil sich sein Eigengeruch verändert. Und ich kann auch erschnuppern, wenn er sich rundum wohl fühlt. Ich spüre, was die Tiere in bestimmten Situationen stört – Gerüche, Lautstärke, Menschen. Manchmal auch schon, bevor das Tier das physisch geäußert hat. Da ist aber sicher auch ein bisschen Erfahrung dabei, vor allem bei den eigenen Tieren.

Ich lerne schnell andere Sprachen.

Das ist eine Eigenschaft, aus der ich leider bisher noch nicht viel gemacht habe, aber ich habe bei 2 Wochen Kuba-Urlaub wieder mal gemerkt, wie leicht es mir fällt, mich in andere Sprachen „einzufühlen“. Klar, muss man auch Vokabeln lernen, aber ein Gefühl für die Sprache hilft dabei schon sehr.

So what? Was macht man nun damit, wenn man hochsensibel ist und das auch bewusst wahrnimmt?

Eigentlich geht es nur darum, sich seine Hochsensibilität zu erlauben und aufhören, sich für andere verstellen zu wollen. Es ist eine wunderbare Eigenschaft und wenn du sie hast, dann kannst du es eh nicht ändern, nur schätzen lernen.

Es geht darum, seinen Alltag so zu gestalten, dass er wirklich zu einem passt. Genug Pausen einzubauen. Ich habe mir jetzt fürs Büro oder auch für Zugfahrten & Co. Kopfhörer bestellt, die die Umgebung ausblenden. Das ist noch sehr neu, mal gucken ob es hilft.

Ein anderes Beispiel ist die Art, wie ich meinen letzten Geburtstag verbracht habe. Früher – ohne das Wissen um meine Hochsensibilität – habe ich oft große Geburtstage gefeiert mit möglichst vielen Leuten. Da war sicher auch ein beträchtlicher Ego-Anteil dabei („Sehr mal her, wie viele Freunde ich habe“). Doch hinterher habe ich oft gemerkt, dass die Zeit für mich stressig war – nicht nur aufgrund der Vorbereitung. Zu meinem letzten Geburtstag haben wir zu fünft einen Spieleabend gemacht – und es war mit Abstand einer der schönsten, witzigsten und erfüllendsten Abende, die ich bisher hatte.

Was für eine Freude, bei sich selbst anzukommen, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu achten – und dann so belohnt zu werden dafür! Offene Herz-zu-Herz Kommunikation so ganz ohne Maske, so fühle ich mich einfach am wohlsten. Dann gibt es auch nicht so viel zu filtern für meine Staumauer und ich halte länger durch 😀 Den gesamten nächsten Tag bin ich noch wie ein Honigkuchenpferd durch die Welt geschwebt…

Wenn du weiterlesen möchtest ist hier auch noch ein toller Bericht einer Betroffenen zum Thema – mit vielen weiteren Beispielen, in denen ich mich auch wiederfinde: http://www.zeit.de/2018/03/hochsensibilitaet-reize-empfindungen-wie-es-wirklich-ist

Was denkst du darüber? Bist du auch hochsensibel oder geht dir gerade ein Licht auf, warum jemand in deinem Umfeld ist, wie er oder sie ist? Ich bin sehr gespannt auf deine Meinung, entweder in den Kommentaren oder an luise@zeitgeistich.de!
Und wenn du den Artikel magst – spread the love and share the happiness (auf Facebook, Twitter, G+ oder wo du sonst bist). Ich danke dir von Herzen.

Photo by George Gvasalia on Unsplash

4 Kommentare

  1. Jc sagt

    Jc – gibt es auch das Gegenteil ? Wenn man alles nur sehr selektiv und dumpf wahrnimmt ?

    • Luise sagt

      Hallo Jc, sicher gibt es auch das Gegenteil, quasi Minder-Sensibilität. Vermutlich merken die Menschen das dann aber nicht so 🙂 Ich denke, wenn man bewusst merkt, die Dinge eher dumpf wahrzunehmen sollte eine medizinische Abklärung stattfinden. Oder falls du eine Frau bist hilft auch Pille absetzen 🙂 Viele Grüße, Luise

  2. Michelle sagt

    Hallo Luise,

    Würde mich freuen wenn du das liest ich bin 18 Jahre alt und bin schon immer sehr nachdenklich gewesen auch als Kind hatte ich schon einen starken Drang nach Gerechtigkeit in meinem Jugendalter haben sich meine Gefühle oft überflutet und ich wusste nie warum.

    Ich gehe nicht gerne einkaufen ich spüre denn Stress der Menschen und bin mit den ganzen Produkten überfordert auch bin ich sehr oft in meiner eigenen Welt und Gedanken. Ich nehme sehr viel wahr eine kleine Ameise auf dem Boden oder eine Eidechse die vorbei huscht im Hintergrund höre ich einen Vogel oder so.

    Ich mache jetzt eine Soziale Schule da ich Menschen helfen möchte. In meiner Schule habe ich das Problem wie ich schon immer hatte ich bin anderst als alle anderen mein Reden und Denken sowie meine Interessen unterscheiden sich sehr von denen der anderen.

    Ich glaube ich würde mich noch am besten mit den Lehrern verstehen da ihre Erfahrungen und das was sie uns erklären genau meiner Meinung und Gefühlen entspricht. Vielleicht kannst du mir ein Tipp geben wie mich andere mehr mögen oder akzeptieren ich bin zu allen freundlich aber sie merken einfach das ich anderst bin alleine wenn ich rede und ich durchschaue sie schnell und merke bei vielen das diese Personen ganz andere Wertvorstellungen hat und viel weniger Sensibilität besitzt. Danke fürs Lesen und liebe Grüße

    • Luise sagt

      Liebe Michelle,
      ich denke, dass es gerade für uns hochsensible Menschen wichtig ist zu lernen, andere genau so sein zu lassen wie sie sind und möglichst wenig zu urteilen – das wünschen wir uns umgekehrt ja letztlich auch. Ich würde an deiner Stelle – vielleicht mit therapeutischer Unterstützung – mal schauen, woher der Glaubenssatz „Ich bin immer anders als alle anderen“ bei dir kommt und ob du dich da nicht vielleicht immer wieder in eine Art selbsterfüllender Prophezeiung begibst? Es ist nur eine Hypothese, du kannst ja schauen ob was dran ist für dich.

      Liebe Grüße & alles Gute!

      Luise

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